Das FODMAP-Ernährungskonzept bei Reizdarmsyndrom – eine große Chance für Ernährungsfachkräfte

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Seit Juni 2021 wird das low FODMAP-Ernährungskonzept in der S3 -Reizdarm-Leitline als Ernährungstherapie empfohlen. Weltweit durchgeführte Studien zeigen, dass beim Reizdarmsyndrom zwischen 50 und 75 Prozent der Betroffenen von einer Einschränkung der FODMAP profitieren. In den letzten Jahren hat das FODMAP-Konzept auch in der europäischen Ernährungssprechstunde Fuß gefasst und vielen Reizdarmbetroffenen zu mehr Wohlbefinden und Lebensqualität verholfen.

Besonders wichtig hervorzuheben ist, dass dieses hoch evidente Ernährungskonzept nur von ausgebildeten Ernährungsfachkräften umgesetzt werden soll. Basis für jede Ernährungsberatung, insbesondere bei Betroffenen mit RDS ist der Nutrition Care Process (NCP) bzw. diätologischer Prozess, um nach Anamnese die optimalen Therapiemaßnahmen zu planen. Nach Expertise der Ernährungsfachkraft wird das Ausmaß einer 2 – 6 wöchigen Karenzphase definiert. In Phase 2, der FODMAP Challenge, wird durch Wiedereinführung der FODMAPs die individuelle Toleranzgrenze ermittelt. In Phase 3 wird basierend auf die Erkenntnisse der Testphase eine möglichst wenig einschränkende, genussvolle und nährstoffsichernde Dauerernährung umgesetzt. Eine FODMAP – Ernährungstherapie kann nicht im Rahmen einer ärztlichen Sprechstunde abgefertigt werden. Ärzt*innen sind eingeladen, an Ernährungsfachkräfte zu überweisen, damit Menschen in ausreichend Zeit hinsichtlich ihrer Ernährung analysiert und die optimale Ernährungstherapie geplant werden kann. Eine Anleitung mit ein paar Sätzen und dem Ausgeben einer FODMAP Liste ist nicht empfehlenswert und keine evidenzbasierte Umsetzung.

An zwei Fallbeispielen wird verdeutlicht, was für ein Potential die FODMAP-Erkenntnisse in der Ernährungstherapie von Reizdarmbetroffenen haben.

 

Fallbeispiel 1: Klassisches FODMAP-Konzept

  • Assessment: Frau, 44-jährig, normale Statur, 168 cm/61 kg mit häufigem Durchfall, Blähbauch und Blähungen. Zufuhr: ausgewogen, normale gesunde Mischkost, keine Auffälligkeiten im Essverhalten. Sie beschreibt einen hohen Leidensdruck und vermeidet bereits Aktivitäten, wenn keine Toilette in Reichweite ist.
  • Interventionen: Es wurde eine komplette FODMAP Elimination für 3-5 Wochen geplant. Die Klientin ist hochmotiviert und startet nach intensiver Schulung problemlos die Eliminationsphase.
  • Monitoring/Verlauf: Nach 2 Wochen schildert sie bereits eine deutliche Symptomlinderung. Beim nächsten Besprechungstermin nach 4 Wochen Karenzphase äußert sie den Wunsch, die 1. Phase fortzuführen. Sie wurde ermutigt, voller Neugier die Testphase zu starten, denn die meisten Betroffenen vertragen durchaus einige FODMAP-Klassen einwandfrei. Außerdem ist es wichtig, die sehr individuelle Toleranzgrenze zu ermitteln.
  • Kommentar der Ernährungsfachkraft: Die wenigsten Reizdarmbetroffenen reagieren auf alle FODMAP. Eine alleinige Ausgabe einer FODMAP-Liste birgt das Risiko, dass sich Menschen unnötig stark einschränken und in der diagnostischen Eliminationsphase „hängenbleiben“. Nur mit spezialisierten Ernährungsfachkräften kann optimal in die Testphase und die Planung einer ausgewogenen Langzeiternährung begleitet werden.

 

Fallbeispiel 2: FODMAP-Überkonsum

  • Assessment: Mann, 28-jährig, sportlich-kräftige Statur, 189 cm/85 kg mit starkem Blähungs- und Völlegefühl. Zufuhr: ausgewogen,kaut mind. 20 Kaugummi/Tag, welche Sorbit und Xylit enthalten. („Ketten-Kaugummi-Kauer“)
  • Interventionen: Der mögliche Zusammenhang zwischen den poyolhaltigen Kaugummis und den Beschwerden wurde besprochen. Dann wurde ein vorläufiges Weglassen aller Kaugummi empfohlen. Da dies dem Klienten als zu schwierig und nicht durchführbar schien, wurde eine eine Reduktion der Kaugummi auf seine wichtigsten drei pro Tag (jeweils nach den Mahlzeiten) vereinbart
  • Monitoring/Verlauf: Diese Umstellung reduzierte seine Beschwerden auf ein für ihn akzeptables Mass, so dass keine weiteren Maßnahmen erforderlich waren.
  • Kommentar der Ernährungsfachkraft: Bei einem FODMAP-Überkonsum (Polyole in Kaugummi) kann zuerst dies angegangen werden, um den Effekt auf die Beschwerden zu beobachten. Der junge Mann hat hier mit gezielten Veränderungen und recht wenig Aufwand viel erreichen können. FODMAP-Überkonsum liegt beispielsweise auch bei hohem Zwiebel- Knoblauch- Gebrauch, bei veganer Ernährung (u.a. Hülsenfrüchte und Dörrobst) oder mehrmaligen Weizenkonsum/Tag vor.

Manchmal liegt es an uns – nicht an den Lebensmitteln

Eine amerikanische Meta-Analyse aus dem Jahr 2021 zeigte, dass 90 % aller Betroffenen mit Reizdarmsyndrom Lebensmittel weglassen, um ihre Symptome zu lindern (1). Doch ist nicht immer das Essen selbst der Auslöser von Beschwerden. 

Die Zügel selbst in die Hand nehmen: Verdauungskompetenz stärken

Das Verdauungssystem „einschalten“

Speichelfluss ist der Beweis dafür, dass unser Verdauungssystem seine Arbeit aufgenommen hat. Machen Sie in der Beratung eine Übung, um das Verdauungssystem für die Klient*innen spürbar zu aktivieren: „Denken Sie jetzt an ein köstliches Essen, das Ihnen gerade schmecken würde! Was wäre das? Wo war es? Schließen Sie nun die Augen und versuchen Sie, diese Mahlzeit mit allen Sinnen abzurufen: Sehen Sie es vor sich, riechen Sie gedanklich daran, beißen Sie gefühlt hinein und beobachten Sie, was passiert ist!“ Interessanterweise können viele oft nicht konkret benennen, was sie spüren. Aussagen wie „es fühlt sich jetzt anders an im Mund“ oder „jetzt habe ich Lust auf dieses Gericht“ müssen noch konkret auf den Punkt gebracht werden. „Spüren Sie, dass Ihnen nun das Wasser im Mund zusammengelaufen ist?“Speichelfluss im Mund ist der Beweis dafür, dass nun auch alle anderen Verdauungssäfte mit Enzymen ausgeschüttet werden. Alles, was wir in diesem Zustand genießen, werden wir viel besser vertragen. Durch Zubereiten einer Mahlzeit und das anschauen und verarbeiten von Lebensmitteln leiten wir auch bereits diese sogenannte kephale Phase oder Verdauungsvorbereitungsphase ein. Es lohnt sich, sich voll und ganz auf das Essen zu konzentrieren, mit allen Sinnen zu erfassen und damit seine Verdauungsfabrik auf Hochtouren zu bringen. Gut vorbereitet ist halb verdaut!

Allein der Gedanke an ein gutes Essen lässt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen!

Faktoren für eine gut wirksame Verdauung und weniger Verdauungsbeschwerden:

1. Bewusstes Genießen

2. Gut gekaut ist halb verdaut

3. Weitere schwer verdauliche Attentäter in unserem Essverhalten:

  • Mahlzeitenfrequenz: zu wenige Mahlzeiten (z.B. 1-2 x tgl.) oder zu hohe Frequenz (Snacking)
  • Zu große Portionsgröße
  • Unphysiologischer Ess-Zeitpunkt (abends, nachts, in Stresssituationen)

4. Lebensmittel, die ab einer gewissen Menge jeden Verdauungstrakt an seine Grenzen bringen:

  • Kaffee
  • Alkohol
  • Kohlensäure
  • Fettreiche Speisen
  • Vom Böhnchen zum Tönchen: Die FODMAP-Last
  • Selbsttest: Wie viele Chancen hat Ihre Verdauung, gut zu wirken?

    Vergleichen Sie Ihr Essverhalten mit dem anderer Menschen, wenn Sie sich schwer tun, sich einzuschätzen.

    Zum Selbsttest

     

Fallbeispiel 3: Essverhalten und Verdauungsbeschwerden

  • Assessment: Mann, 36-jährig, adipöse Statur, 185 cm/135 kg mit chronischem Blähbauch, Blähungen und Verstopfung. Zufuhr: positive Energiebilanz, niedrige Zufuhr von Gemüse und Obst, erhöhter Konsum von fettreichen Lebensmitteln, Süßigkeiten. Essverhalten: Er isst sehr schnell und kaut nicht gut. Der Betroffene isst oft nebenbei z.B. im Auto, bei der Arbeit/vor dem PC.
  • Interventionen: Dem Herrn wurde die Arbeitsweise unseres Verdauungssystems erklärt, um ihm die Wirkung einer achtsamen, genussvollen Ernährungsweise mit gutem Kauen verständlich zu machen. Es wurde ein anderer Essensplatz und ein ruhigeres Essambiente am Mittag geplant sowie generell ein bewussteres und besseres Kauen.
  • Monitoring/Verlauf: Bereits nach wenigen Tagen ist der Klient beeindruckt von seiner gut funktionierenden Verdauung und dem Verschwinden von Beschwerden. Er bemerkt auch eine frühzeitigere Sättigung und kann seine Portionsgrößen reduzieren. Damit konnte er im Verlauf der Betreuung einen weiteren Wunsch, nämlich eine Gewichtsreduktion erfolgreich umsetzen.
  • Kommentar der Ernährungsfachkraft: Viel zu oft werden heute Lebensmittel als Auslöser von Beschwerden beschuldigt, ohne zuerst das eigene Essverhalten zu reflektieren.

 

Fallbeispiel 4: Der Stress mit dem Essen

  • Assessment: Frau, 22-jährig, mit Reizdarmsyndrom mit Bauch-Schmerzen, wechselndem Stuhlgang, z.T. Blähungsgefühl. Zufuhr: Denkt bei Beschwerden immer an die zuvor konsumierten Nahrungsmittel und lässt diese dann in Zukunft weg; isst nur noch wenige Nahrungsmittel und energetisch unzureichend; Gewichtsverlust von 4 kg bis BMI 19 innert 5 Monaten. Wegen dem Gewichtsverlust macht sie sich Sorgen, dass eine andere, zusätzliche Krankheit mitspielen könnte. Sie ist durch dies, die Beschwerden und das „Nicht-wissen-was-essen“ sehr belastet. Keine Anzeichen einer Essstörung mit Normalgewichtsproblem.
  • Interventionen/Verlauf: Zuerst wurde eine ausführliche Edukation „Zusammenhang Ernährung und Beschwerden/Reizdarmsyndrom“ gemacht. Dabei konnten wichtige Informationen vermittelt werden, welche dem Einordnen der Beschwerden und den Zusammenhängen mit den Nahrungsmitteln helfen (z.B. zu (u.a. zu fehleranfälligen Selbstbeobachtungen und -Interpretationen). Zudem wurde besprochen, dass auch andere Faktoren bei Beschwerden mitspielen können (z.B. Stress, Zyklus),aber eine andere Krankheit unwahrscheinlich ist, da vieles abgeklärt und ausgeschlossen wurde.Anhang einer Liste der FODMAP-armen Lebensmittel wurden dann schrittweise verschiedene Nahrungsmittel versuchsweise wieder eingeführt.
  • Monitoring/Verlauf: Dies gelang meist gut und ermutigte die Betroffene, weiter diesen Weg zu gehen. So konnte sie die Beschwerden weiterhin gut kontrollieren, gleichzeitig aber den Gewichtsverlust stoppen und die für die Gesundheit und den Darm so wichtige Nahrungsmittelvielfalt erhöhen. Zudem nahm der essensbezogene Stress stark ab, da sie sich wieder sicherer fühlte und nicht nur immer ans Essen dachte, wenn Beschwerden auftraten.
  • Kommentar der Ernährungsfachkraft: Bei einem solchen Essverhalten und Gewichtsverlust muss immer auch an eine Essstörung wie Anorexia nervosa gedacht werden. Oft ist das Meiden vieler Nahrungsmittel allerdings einzige der Angst von Beschwerden geschuldet und die Betroffenen leiden unter ihrem tiefen oder sinkenden Gewicht. Im Extremfall kann eine Essstörung vom Angst-Typ einer „Avoidance Restriktive Food Intake Disorder“ (ARFID) vorliegen, welche allenfalls auch psychiatrische Unterstützung benötigt.Eine vertrauensvolle Beratungsbeziehung, das Vermitteln vieler hilfreicher Informationen, und dem engen Begleiten des Erweiterns der Nahrungsmittel-Wahl-Prozesses ermöglichen meist erste kleine Fortschritte. Diese sind oft ganz wichtig und ermutigend. Mit der Zeit kann das Thema „Essen und Beschwerden“ dann auch wieder mehr in den Hintergrund treten. 

In der amerikanischen Meta-Analyse aus 2021 waren Menschen mit gastrointestinalen Beschwerden um 44 % häufiger von gestörtem Essverhalten betroffen als Menschen ohne Verdauungsbeschwerden(1).

Seit etwa 2013 wird eine neue Form der Essstörung beschrieben, die bei 10 – 20 % aller Menschen mit Magen-Darm-Beschwerden festgestellt werden kann (2). Die Essstörung ARFID steht für Avoidant restrictive food intake disorder und bezeichnet eine Vermeidung von Nahrungsaufnahme oder die Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Die Einschränkung des Essens wird durch die Angst vor Beschwerden ausgelöst, mit der Folge einer ungewollten Gewichtsabnahme und Entwicklung einer Mangelernährung.

Fazit:

Durch das FODMAP-Konzept steht Ernährungsfachkräften eine evidenzbasierte Ernährungstherapie zur Verfügung. Ohne sauberer Ernährungsanamnese ist es nicht möglich, die richtige Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Es geht also oft nicht nur ums WAS (z.B. FODMAP), sondern auch ums WIE essen.

 

Die Autorinnen:

Edburg Edlinger BSc, Diätologin
Praxis in der Hofburg, Innsbruck
Österreich

www.diaetologin.eu

Edburg Edlinger_Diaetologin

Beatrice Schilling BSc, Dipl. Ernährungsberaterin SVDE
Baden
Schweiz
www.beatrice-schilling.ch

Ernährungsberaterin_Schilling Beatrice

Quellen

  1. McGowan A, Harer KN. Irritable Bowel Syndrome and Eating Disorders: A Burgeoning Concern in Gastrointestinal Clinics. Gastroenterol Clin North Am. 2021 Sep;50(3):595-610. Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34304790/ (Aufgerufen am 25.4.2022)
  2. Simons M, Taft TH, Doerfler B, Ruddy JS, Bollipo S, Nightingale S, Siau K, van Tilburg MAL. Narrative review: Risk of eating disorders and nutritional deficiencies with dietary therapies for irritable bowel syndrome. Neurogastroenterol Motil. 2022 Jan;34(1):e14188. Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34254719/ (Aufgerufen am 25.4.2022)
FODMAP-Ernährungstherapie-Reizdarmsyndrom-2022

November 2022 & Jänner 2023, Online-Seminar-Reihe des Verbandes für Ernährung & Diätetik VFED